Wollen wir Nutzen und Grenzen der Psycho-Physiognomik in einem therapeutischen Setting beschreiben, liegt die erste Hauptschwierigkeit in den vielen Bereichen innerhalb der Psycho-Physiognomik. Hier gilt es als Erstes den Bereich zu benennen, um den es geht (z.B. Antlitzdiagnostik, Körpersprache etc.). Daraus folgend haben wir es mit konstanten und mit veränderbaren Ausdruckselementen zu tun, und dann geht es um den Kontext (Situation), in dem die Psycho-Physiognomik (bzw. dessen Hauptbereich) eingesetzt werden soll. In einer Fortbildung zum Thema Psycho-Physiognomik ist der Hauptbereich, der unterrichtet wird, unbedingt zu erwähnen (z.B. Mimik, Kraft-Richtungs-Ordnung etc).
Eine der Hauptschwierigkeiten der Körper-, Kopf- und Gesichtsausdruckskunde (Konstitutionslehre und Gesichterlesen nach Carl Huter) ist sicher die Lehrbarkeit. Will dies gelernt werden, so bleibt dem Studierenden, aber auch dem Dozenten, nichts Anderes übrig, als von Gesichtsorgan zu Gesichtsorgan, von Ausdruckszone zu Ausdruckszone vorzugehen und die Bedeutungen der einzelnen Formelemente zu lernen bzw. zu lehren. Stets muss darauf hingewiesen werden, dass alle Zonen unbedingt miteinander in Verbindung zu setzen sind, wenn wir das Wesen des Menschen erkennen und verstehen bzw. die funktions- und organspezifischen Merkmale deuten wollen. Das Feststellen von Tendenzen bedingt allerdings konsequentes Üben und fundierte Kenntnisse der Psycho-Physiognomik. Erst dann erfolgt die Interpretation und Feststellung der Persönlichkeitstendenzen bzw. gesundheitsrelevanter Themen etc.
Die Psycho-Physiognomik als Ganzes, aber auch die Körper-, Kopf- und Gesichtsausdruckskunde sind ein «Werkzeug», das uns tief in uns selber und unser Gegenüber schauen lässt. Es ist ein Wegweiser zu uns selbst. Doch ein Wegweiser weist nur den Weg, den Weg müssen wir selber beschreiten. D.h., die Psycho-Physiognomik vermag uns aufzuzeigen, was ist, doch damit ist noch nichts geändert. Die Änderung muss von uns bzw. vom Klienten oder Patienten aktiv angegangen werden, denn «ein Diagnostikwerkzeug ist keine Therapie». Hier liegt auch eine der Grenzen, denn die Psycho-Physiognomik als Diagnostikwerkzeug gibt uns lediglich Hinweise, wenn auch die Benennung von Persönlichkeitseigenschaften oder das Aufzählen von organ- und funktionsspezifischen Zeichen von Klienten und Patienten als hilfreich empfunden werden kann. Ebenso ist es unmöglich, mit der Psycho-Physiognomik eine Prognose abzugeben. Hingegen können Verhaltenstendenzen, Persönlichkeitsmuster sowie Neigungen zu gewissen gesundheitlichen Schwachstellen erkannt werden.
Die Persönlichkeit gestaltet sich in Wechselwirkung mit der Umwelt, und niemand kann voraussagen, was auf die Person zukommen wird. Funktions- und organspezifische Gesichtszeichen dienen als Spiegel des Organlebens und der Stoffwechselfunktionen. Hier kann wohl ein tendenzieller Ist-Zustand erfasst werden und in das komplementäre Behandlungskonzept mit einbezogen werden. Hingegen können Prognosen nur nach einer Diagnose abgegeben werden, und diese ist den Ärzten vorbehalten.
Konstante und veränderbare Ausdruckselemente der Psycho-Physiognomik und ihre Bedeutung im therapeutischen Kontext
In den relativ konstanten bzw. nur langsam veränderlichen Körper-, Kopf- und Gesichtsformen zeigen sich die kaum oder langsam veränderlichen Persönlichkeitsmerkmale oder -eigenschaften eines Menschen. Wir erkennen hier die verwirklichten, erreichten und bewahrten Merkmale, die über eine längere Zeit konstant bleiben, aber dennoch (wenn auch nur langsam) veränderbar sind. Dazu gehört z.B. das Naturell (Grundtyp).
Die leicht veränderlichen Körperbewegungen der Körpersprache (wie Gestik, Verhalten) sowie die mimischen Regungen zeigen die aktuellen Stimmungen, Gefühle, Emotionen und die momentane Gedankenrichtung. Denn ebenso rasch, wie sich eine Stimmung zu verändern vermag, werden sich auch Körpersprache, Mimik und Ausstrahlung ändern.
In den festen Körper-, Kopf- und Gesichtsformen kommt in erster Linie die über Jahre hinweg nur langsam veränderliche Grundpersönlichkeit zum Ausdruck. Zusammen mit den dynamischen und schnell veränderlichen Körperbewegungen, den dynamischen Persönlichkeitsaspekten, ergibt sich das, was mit dem Temperament in Verbindung gebracht werden kann. Das Prinzip, dass anhand des Äußeren das Innere erkannt werden kann, lässt sich hier hervorragend anwenden und wird dadurch in bester Weise bestätigt.
Ferner gilt es zu bedenken, dass die Grundpersönlichkeit, welche in der Psycho-Physiognomik dem Naturell entspricht, die nonverbale, paraverbale und verbale Kommunikation in einem erheblichen Maße zu beeinflussen vermag.
Als (von Natur aus) unveränderbare Elemente gelten sicher das biologische Alter und das Geschlecht.
Das Naturell (Grundtyp) ist veränderbar, jedoch in der Regel nur sehr langsam und tendenziell. D.h., aus einem primären Naturell kann kein anderes primäres Naturell entstehen, also kann z.B. aus einem Empfindungs-Naturell kein Bewegungs-Naturell entstehen. Hingegen ist es möglich, dass aus einem primären Empfindungs-Naturell ein sekundäres Empfindungs-Bewegungsnaturell entsteht. Dieser Prozess kann Jahrzehnte, vielleicht aber auch nur wenige Jahre dauern. Dasselbe gilt für die Körper- und Kopfformen, da die Naturell-Konstitution von diesen mit bedingt wird.
Gesichtsorgane hingegen verändern sich schneller und können sich innerhalb von Jahren, z.T. schon von wenigen Monaten verändern.
Als sehr schnell veränderbar kann die verbale, nonverbale und paraverbale Kommunikation eingeordnet werden. Hier zeigen sich die momentane Einstellung, vorhandene Stimmungen oder Gefühle oft unmittelbar. Nebst der verbalen sind auch die nonverbale und paraverbale Kommunikation für ein therapeutisches Setting unerlässlich, weil diese unmittelbar als Information genutzt werden können.
Obwohl bei jedem Menschen in der Regel zwei bis drei von den vier Temperamentszuständen vorherrschend sind, wechselt der Temperamentszustand gesunderweise täglich mehrmals. Trotzdem bleibt das Grundtemperamentmuster (d.h. die betonten Temperamentszustände) im Verhältnis zu den kommunikativen Elementen “stabil”.
Die schnell veränderlichen und dynamischen Körperbewegungen des Menschen entsprechen seinen dynamischen, sich schnell verändernden Persönlichkeitsaspekten wie z.B. dem Temperamentswechsel oder der momentanen Stimmung (als Ausdruck des momentanen inneren Erlebens).
Die Ausstrahlung (Kraft-Richtungs-Ordnung) ist ungefähr in der Mitte angesiedelt. Einerseits wird sie von den momentanen Stimmungen und Gefühlen beeinflusst, andererseits gehört sie auch zum Grundtyp und zur individuellen Grundveranlagung.
Als Beispiel für die Vermischung von stabilen und veränderlichen Elementen sei der Mund genannt. Er weist einerseits feste physiognomische Merkmale wie Mundgrösse, Lippenfülle und Mundlinienform auf. Andererseits ist er mit der Mimik auch ein Spiegel des schnell veränderbaren Gefühlslebens des Menschen. Dabei können diese Gefühle durch objektive, also real tatsächliche Reize oder subjektive (vorgestellte) Situationen hervorgerufen werden.
Die soziale Wahrnehmung und ihre Fehlerquellen
Psycho-Physiognomiker sind wie alle Berater und im sozialen Umfeld tätige Personen den Beobachtungs-, Beeinflussungs- und Feststellungsgefahren in der Personenwahrnehmung ausgesetzt. Um die Beeinträchtigungen und möglichen Fehler von sozialer Wahrnehmung zu verstehen, muss man zuerst die Bedingungen der Wahrnehmung im Allgemeinen betrachten.
Eine Frage wäre also, was gehört zum normalen Wahrnehmungsprozess, und wodurch kann dieser behindert werden? Schliesslich soll eine bewusste Wahrnehmung ermöglicht werden. Die Wahrnehmung im Allgemeinen und die soziale Wahrnehmung im Speziellen wird durch einige Faktoren beeinflusst, wie z.B. Aufmerksamkeit, Konzentration, Reflexion, Adaptation, Emotion und Rollenerwartungen. Dazu gesellen sich persönliche Faktoren wie Haltung, Erziehung, Werte, Einstellung, Erwartungen etc. Beobachtungs- und Beurteilungsgefahren sind, um nur einige zu nennen: Attributionsfehler, Hof-Effekt, Hierarchie-Effekt, Primacy-Effekt, grundsätzlich selektive und subjektive Wahrnehmung, soziale Stereotype (Vorurteile) und vieles mehr.
Eine psycho-physiognomische Analyse ist also auch persönlich vom Therapeuten oder Berater gefärbt. Für diesen gilt es, sich der eigenen Neigungen der sozialen Wahrnehmungsfehler bewusst zu sein. Aus diesem Grund spreche ich bei psycho-physiognomischen Betrachtungen gerne lediglich von Neigungen und Tendenzen.
Patho-Physiognomik (Antlitzdiagnostik) im therapeutischen Kontext
Die patho-physiognomischen Merkmale in diesem Teilbereich sind rasch veränderbar. Oft kann schon Stunden nach Einnahme eines (naturheilkundlichen) Medikamentes eine Veränderung z.B. der Hautspannung und -Färbung beobachtet werden. Selbst nach Einnahme einer schwer verdaulichen Mahlzeit können antlitzdiagnostische Veränderungen beobachtet werden. So kann z.B. nach einem fettigen Essen beobachtet werden, wie das Leberareal und die Bauchspeicheldrüse gerötet erschienen. Deshalb eignet sich die Patho-Physiognomik als Hinweisdiagnostik für Naturheilpraktiker, Ärzte und für im Gesundheitsbereich tätige Personen. Aufnahmebilder von jeder Sitzung ergeben eine gute Verlaufskontrolle.
Die Patho-Physiognomik lässt sich als Hinweisdiagnostik in das bestehende Diagnostikverfahren integrieren, dadurch wird das Behandlungskonzept individueller auf den Patienten angepasst, und der Naturheiltherapeut erlangt im Diagnostik- und Behandlungsverfahren mehr Sicherheit.
Körper-, Kopf- und Gesichtsausdruckskunde (Gesichterlesen, Naturell- und Konstitutionslehre) im therapeutischen Kontext
An dieser Stelle sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass alle festgestellten Persönlichkeitseigenschaften und -merkmale Veränderungen unterliegen. Es kommt immer auf den Faktor Zeit an. Die Körper-, Kopf- und Gesichtsausdruckskunde kann für ein Therapie- und Behandlungskonzept äusserst hilfreich sein, denn die Basis der Krankenphysiognomik nach Carl Huter bildet seine Naturell-Lehre. Die Erkenntnisse der Körper-, Kopf- und Gesichtsausdruckskunde (Konstitutionslehre und Gesichterlesen nach Carl Huter) stellen eine erweiterte Grundlage für die Diagnostik und Therapie dar. Jedes Naturell hat bestimmte Neigungen zu Krankheitsursachen mit Bezug zur Lebensführung (Lebensstil) und Gesundheit.
Carl Huter kam mit den Naturell- und Grundlebenstypen zu dem überraschenden Resultat, dass gewisse Naturelltypen eher auf homöopathische, andere auf schulmedizinische, wieder andere auf Naturheilmethoden, noch andere auf psychotherapeutische Behandlungen gut reagieren, dass aber alle anderen Mittel auf diese Typen einen ungünstigen Einfluss haben und eine Verschlechterung der Gesundheit hervorbringen können. Huter schrieb die Erfolge und Nichterfolge der einzelnen Heilmethoden bei den verschiedenen Patienten und Krankheiten nieder. Aufgrund dieser Beobachtungen kam er zur Überzeugung, dass es schlichtweg falsch sei zu glauben, alle Menschen nur nach einer bestimmten Methode gesund machen zu können, z.B. alle nur mit Schulmedizin oder Bachblüten oder einer bestimmten Massage etc.
Nicht jede komplementäre und/oder medizinische Behandlungsweise passt für jedes Naturell. Der ganze Streit zwischen Schulmedizin, Naturheilpraktiker und Psychotherapeuten, wessen Methode nun die effektivere sei, ist überflüssig und unwissenschaftlich. Wichtiger ist das Zusammenarbeiten der verschiedenen Richtungen und Disziplinen mit dem Ziel, dem Patienten die Möglichkeit zur Heilung zu verschaffen.
Die Naturell-Entwicklung steht mit der Keimblatt-Entwicklung im Zusammenhang und diese wiederum mit der Entwicklung der Grundorgansysteme, woraus sich bestimmte Krankheitsneigungen ergeben.
Körper-, Kopf- und Gesichtsbau (als Naturell-Grundtypus) steht im Zusammenhang mit seelischer Veranlagung und Lebensweise, woraus sich wiederum Gesundheit, Krankheitsneigung sowie Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten erschliessen.
Eine Behandlungsmethode – ob naturheilkundlich und/oder schulmedizinisch ‒, die dem einen Grundtyp hilft, kann für einen anderen wirkungslos sein, dem dritten schaden und beim vierten den Gesundheitszustand verschlechtern. Die therapeutische Handlungskompetenz wird also unter anderem auch darin vertieft und entwickelt, sich grundlegende Kenntnisse über die einzelnen Naturelle und ihre Lebensweise und damit die Tendenzen zu Krankheit und Gesundheit anzueignen. Dadurch ist gewährleistet, dass im jeweilig erforderlichen Falle die eine oder andere Behandlungsmethode zur Anwendung gebracht wird, damit bei dem betreffenden Naturell-Typus erfahrungsgemäß die günstigste Heilwirkung erzielt werden kann.
Hierdurch wird nicht nur die Diagnose, sondern auch das Behandlungskonzept von vornherein auf eine viel breitere und bessere Grundlage gestellt. Als Vorteil ergibt sich eine wirklich individuelle Behandlung. Die individuelle Erkenntnis über Körper, Psyche und Lebenskraft, Naturell, vorhandene Energie (Ausstrahlung/Kraft-Richtungs-Ordnung) und Reaktionskraft wird dadurch berücksichtigt. Die Klienten und Patienten werden zudem in ihren Ansichten, Anliegen, Bedürfnissen und Ängsten besser verstanden.
Aus- und Weiterbildungen in Psycho-Physiognomik, insbesondere die Hauptbereiche Antlitzdiagnostik, Körper-, Kopf- und Gesichtsausdruckskunde (Naturell-Lehre und Gesichterlesen), dienen der Erhaltung, Verbesserung und Entwicklung der therapeutischen Handlungskompetenz und des Könnens, weil sie im Rahmen einer therapeutischen Tätigkeit Folgendes umfasst:
- Sie dient der besseren Erfassung des Klienten in der Anamnese.
- Sie wirkt unterstützend in der Anwendung und Erstellung eines therapeutischen Konzeptes zur Behandlung eines Klienten gemäss Befund.
Durch die Antlitzdiagnostik sowie die Körper-, Kopf- und Gesichtsausdruckskunde (Naturell-Lehre und Gesichterlesen) kann der Klient oder Patient ganzheitlich wahrgenommen werden. Dadurch kann die Gesundheitserhaltung und -förderung der Klienten und Patienten besser erreicht werden.
Die Ausstrahlung (Kraft-Richtungs-Ordnung) im therapeutischen Kontext
Die weiter oben schon beschriebene Kraft-Richtungs-Ordnung (Ausstrahlung oder Vitalkräfte) hat sowohl Einfluss auf die Körper-, Kopf- und Gesichtsausdrucksformen als auch auf die Themen Gesundheit und Krankheit. Da diese Kräfte zudem rasch veränderbar sind und im therapeutischen Setting die Veränderungen beobachtbar sind, ist sie für den Therapeuten unerlässlich.
Die Psycho-Physiognomik, insbesondere die Antlitzdiagnostik (Patho-Physiognomik), die Lehre von den Körper-, Kopf- und Gesichtsausdrucksformen (Gesichterlesen, Naturell-Lehre) sowie die Kraft-Richtungs-Ordnung (Ausstrahlungsqualitäten/Die Kräfte der Seele) können somit zur optimalen Anpassung des Therapie- oder Beratungskonzeptes auf den jeweiligen (Naturell-)Typus angewendet werden.